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Politik

Globaler Glanz, Berliner Elend

Chefredakteur
Die deutsche Hauptstadt ist politisches Zentrum Europas, die Start-up-Szene überholt London, Gucci und Givenchy fotografieren ihre Kampagnen hier, aber die Landespolitik könnte kaum provinzieller sein. Änderung nicht in Sicht. Warum?

Als Berlin am 3. Oktober 1990 mit der Wiedervereinigung wieder zur Hauptstadt Deutschlands wurde, konnte niemand absehen, was daraus werden würde. Aber nahezu jeder hatte eine Fantasie, was aus der einst strahlend reichen, dann zerstörten, dann zerrissenen und nun schließlich vereinten Stadt werden könnte. Im Februar 2016 markiert das Regierungsviertel eher ungewollt das politische Zentrum Europas. Kanzlerin Merkel mag zwar isoliert sein, aber unter den einflussreichen Staatschefs des Kontinents ist sie mehr als eine prima inter pares. Als heimlicher Hegemon hat Berlin in der Euro-Krise den Zusammenschluss der Umverteiler verhindert und versucht es jetzt, eher unglücklich, eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise. Als Schauplatz von Weltpolitik hat sich Berlin nicht nur in Nachrichtensendungen und Zeitungstiteln etabliert, sondern zunehmend auch in den populären Fiktionen über die Schicksalsschlachten der Zivilisation.

Die fünfte und bislang letzte Staffel von „Homeland“ spielte nahezu komplett in Berlin, wohin es die Heldin der vielleicht einflussreichsten Polit-Serie der Welt verschlagen hat, um zu leben und am Ende dann einen Anschlag von Islamisten zu verhindern. Waren die bislang in Berlin gedrehten Hollywoodfilme vor allem Historienschinken mit vielen Nazis, Widerstandskämpfern und exzentrischen Sadisten, zeigte Homeland jenes ständig zwischen brandneuer Architektur und dem schaurigen Gammel von Ruinen changierende Berlin. Diese Janusköpfigkeit beruht auf der Gleichzeitigkeit von Geschichte und Gegenwart. Nirgendwo sind die Narben der Vergangenheit so sichtbar, nirgendwo baut man so verbissen gegen die eigene Zerstörtheit an.

Neben der offiziellen Selbstermächtigung als Hauptstadt gab es mit dem Fall der Mauer eine Art Kernfusion zweier extrem vitaler Subkulturbiotope. Brachte der Westen die Härte von New Wave, Techno und Post-Punk ein, war es im Osten die linke Bürgerrechtsboheme des Prenzlauer Bergs. Mit der Loveparade und Techno hatte Deutschland passend zum Fall der Mauer eine erste gemeinsame Tanzbewegung, die es, zeitgleich mit dem WM-Titel 1990, zu Weltruhm brachte. Dies und die stets sehr lebendige Kulturszene, allen voran die bildenden Künste, machten Berlin zur Weltstadt, während das politische Berlin mit „provinziell“ schmeichelhaft beschrieben wurde. 2001 trat der bis dato eher unbekannte Klaus Wowereit als Regierender Bürgermeister an. Aus einer sozial entstellten Stadt, die, wie Peter Fox das so schön besungen hat, nicht einmal von Weitem gut aussah, wurde in Wowereits Amtszeit eine der erfolgreichsten Marken urbaner Weltkultur. Berlins anfangs zögerliches Auferstehen aus den Ruinen von Teilung und Deindustrialisierung dynamisierte sich, die Immobilienpreise erreichten an einigen Ecken internationales Niveau, die Start-ups spielten auf der Torstraße Palo Alto, und wenn Hollywoodstars ihre Zelte in der Hauptstadt aufschlugen, hatte das etwas Selbstverständliches. Das waren Berlins Etüden als Weltstadt.

Nach dem Ausscheiden Wowereits aus dem Amt und der Übergabe an Michael Müller wächst und gedeiht Berlin auch und vor allem ohne das Zutun der Politik. Wowereit wie Müller sind Zöglinge des Kleinbürgerkollektivs SPD, beide sind sie in den weniger glamourösen Teilen der Stadt geboren, in Lichtenrade beziehungsweise in Tempelhof. Anders als Ernst Reuter, Willy Brandt und Richard von Weizsäcker, die eine zerrupfte Halbstadt regierten und damit Maßstäbe setzten, ist das neue, wiedervereinte Berlin zwar stärker und stabiler denn je, aber die politische Führung ist dank des kompetenten, fleißigen, aber antiauratischen neuen Regierenden Bürgermeisters noch weniger sichtbar geworden als zuvor. Die Landespolitik ist in nahezu allen Parteien weitgehend dörflich, oft genug rustikaler als das, was die meisten Berliner gemeinhin als Provinz empfinden. Ob Boris Palmer, Julia Klöckner, Ralf Stegner oder Bodo Ramelow – im Rest der Republik haben Landespolitiker ein anderes Format. Kaum einer der Hauptstadtheroen – mit Ausnahme von Kulturstaatssekretär Tim Renner und Justizsenator Thomas Heilmann vielleicht steht lebensweltlich, intellektuell wie kulturell für jene Metropole der Inspiration, die kreative Eliten in ihren Bann zieht. Während die Stadt und das Land an Flüchtlingsunterkünften, Flughäfen, einer vernünftigen Verkehrspolitik, anständigen Schulen und akzeptabler Integration seit Jahren scheitert, pilgern Trendscouts und Modedesigner in jenen politisch oft genug „failed state“, der gerade durch sein organisatorisches Torso bezaubert.

Da Berlin im 20. Jahrhundert die Welt mit Kriegen, Revolutionen und Barbarei-Exzessen durcheinandergeschüttelt hat, wurde die Stadt selbst zum Schauplatz ungeahnter Verwüstung, zerbombt, eingemauert, blockiert, von Intrigen und Spionage zersetzt. Es gab ein ultrafreies West-Biotop und einen stalinistischen Ost-Bunker – und die entsprechende Städteplanung und Architektur. Heute wird alles mit einem neogründerzeitlichen Soßenbinder zusammengerührt. Doch so sehr sich die Stadt müht, ihre Wunden zu heilen, anstatt sie zu zeigen, die Fliehkräfte des vergangenen Jahrhunderts waren zu groß. „Berlin ist immer schon unfertiger, ruppiger, herzlicher, dynamischer gewesen als andere Metropolen und wird es weiter sein“, versprach Michael Müller in seiner Neujahrsansprache im Dezember 2015. „Das macht auch den ganz eigenen Charme unserer Stadt aus. Es darf aber für uns keine Entschuldigung für viele Dinge sein, die hier eben nicht in Ordnung sind.“ Immerhin.

Gucci und Givenchy sind diesem Charme gerade wieder erlegen. Bestaunt von Modeblogs aus Japan, der US-Westküste oder Rio. In ihrer offiziellen Verlautbarung erklärte Gucci die deutsche Popkultur der 80er-Jahre und deren Bildsprache zur Hauptinspiration für die aktuelle Kampagne. Wer den „Christiane F.“-Film von 1981 gesehen hat, weiß, was gemeint ist. Berlin ist für Gucci eine künstlerische und „brutalistische“ Stadt, in der Sorglosigkeit und Hedonismus die Härten der Realität vergessen machen soll. Bei Givenchy, einem nicht minder luxuriösen wie glamourösen Label, wird ein Härteexzess als Schaubühne gesucht und gefunden, auf der ehemaligen Stalinallee in Ost-Berlin, mit Ost-Platten und dem DDR-Fernsehturm im Hintergrund.

Bieten Kulissen wie Paris, New York oder Comer See eine Art Überdosis Schönheit und Anmut, suchen Modefirmen und Designer in Berlin jenen Realitätsschock, den Berlin seit der Weimarer Republik gewissermaßen selbstverständlich liefert. Wenn Gucci in dem bestenfalls skurrilen „Café Keese“ fotografiert, taucht eben jenes Berlin auf, vor dem die Hauptstadtdarsteller fliehen. Es ist das alte, noch nicht renovierte, gentrifizierte, digitalisierte, unhippe Berlin, was eine radikale Ehrlichkeit bietet, wie sie so kaum noch zu finden ist. „Tanzen Sie in toller Atmosphäre und treffen Sie nette Leute“, versprechen die Macher des „Café Keese“, „Disco Fox, Schlager international oder national und Dance Classics ... alles dreht sich ums Tanzen“. Um dann noch den Hinweis zu geben: „Wir legen auf sportlich-elegante Kleidung wert ... Vielen Dank!! (Krawatte ist nicht zwingend notwendig :-))“. Dass Gucci hier ihre Tausende Euro teueren Outfits inszeniert, ist mehr als Ironie. Es verkörpert die Sehnsucht der Avantgarde nach Plätzen, die dem Terror des Ansehnlichen noch nicht erlegen sind.

Berlin bleibt hässlich. Zum Glück. Nicht überall, aber immer noch oft genug. Es wird nie eine wirklich schöne Stadt sein, sondern stets eine harte. Voller Nischen und Biotope. Ein Patchwork der Minderheiten. In der aktuellen Ausgabe des Kunstmagazins „Blau“, das dieser „Welt“ beiliegt, wird die Geschichte eines gemütlichen Restaurants in Kreuzberg erzählt, das zu einer Art Gravitationszentrum der Boheme wurde. Gegründet von dem genialischen Schriftsteller, Sprachtheoretiker und Kybernetiker Oswald Wiener, war es eine Art Inkubator für Kunst- und Kommerzkarrieren, die bis heute das kulturelle und gastronomische Leben Berlins prägen. Es zeigt, dass Berlin nach der Implosion der Germania-Pläne der Nazis das Kleine als Keimzelle des Großartigen entdeckt hat. David Bowie produzierte die drei wichtigsten Platten seiner Kariere (und damit wohl auch des Pop) aus einer ranzigen Wohnung in Schöneberg und einem bizarr patinierten Studio an der Mauer. Das Restaurant „Exil“ brachte Künstler, Dichter, Filmemacher, reiche Anwälte und die globale Schickeria zusammen.

Heute sind es die Gassen und Plätze eines vor zehn Jahren noch vom Untergang bedrohten Viertels wie Nord-Neukölln, in denen die kreative Jugend der Welt ihren polyglotten Spielplatz von Sex, Drogen und Rock ’n‘ Roll gefunden hat. Anders als noch vor fünf Jahren bleibt es nun nicht mehr nur beim Spaß, sondern gibt es eine Start-up-Subkultur, in der das knallharte Unternehmensgründen zum Extremsport mutiert. 2015 hat Berlin in einigen Quartalen London als Start-up-Europameister abgelöst und damit die Aufmerksamkeit von Venture-Capital-Fonds und experimentierfreudigen Investoren weiter erhöht. Die Politik nimmt es weitgehend staunend zu Kenntnis. Es freut vor allem jene störrischen alten Unternehmer, die auch in hoffnungslosen Zeiten ihr mittelständisches Unternehmen in der Stadt gelassen haben.

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Kulturstaatssekretär Renner betont litaneiartig: „Kultur und Kreativität sind die Wachstumstreiber der Stadt.“ Das stimmt, aber selbst die hartgesottensten Fans der Stadt nehmen köpfschüttelnd zu Kenntnis, welchen Grad an Unfähigkeit und institutionalisierter Dickhüftigkeit die Bürokratie und die Verwaltung haben. Die Berliner Landespolitik feiert es als Triumph, dass Rentner nun seit ein paar Wochen wieder einen abgelaufenen Reisepass erneuern können, ohne mit dem Schlafsack vor einem Bürgeramt zu campieren. BER; Lageso und Rütli wären als Chiffre der Inkompetenz noch irgendwie zu ertragen, wenn dieses Versagen nicht assistiert würde von einem Protestspießertum, das die Bebauung von Tempelhof verhindert, in jedem Immobilienprojekt das Ende ihrer oft genug faulen Träume identifiziert und jeden Schrebergarten zum Kulturdenkmal hochföhnt. Das offiziell phlegmatische Berlin passt gut zu den alten, etablierten Verweigerungs- und Neinsage-Eliten.

Beide zusammen formieren eine große Koalition der Entschleunigung. Aber sosehr das regierende und das dagegen regierende Berlin auch auf der Bremse stehen, sie können die Dynamik der Stadt nicht einbremsen. Die herrlichen illegalen Klubs in Neukölln, das Aufblühen Charlottenburgs mit alten neue Galerien wie denen von Max Hetzler und Contemporary Fine Arts, die unfassbar vielen jungen, frischen Restaurants mit Köchen aus dem Kongo, Israel oder Mittelfranken. Architekten, Designer, aber auch Touristen kommen, weil diese Dynamik ansteckend wirkt. Hipsterveteranen aus New York, London und Paris ziehen nach Berlin, weil ihnen die anderen Städte zu satt geworden sind.

Die Umbrüche erreichen an der Basis nun auch die politischen Parteien. Bei der (von biederen Dilettanten geschredderten) FDP in Kreuzberg-Friedrichshain tritt der ehemalige Chef der Piraten, Bernd Schlömer an. In der Union entstehen besonders im Osten kluge, kämpferische Widerstandsnester gegen den Mief der Altvorderen, bei den Grünen führt Ramona Pop unorthodox bürgerliche Truppen gegen die Verbotslinke ihrer Partei. Und die SPD hat immerhin Renner und Jan Stöß. Aber das Wahlvolk ahnt, dass diese Landesregierung im Großen und Ganzen unfähig zu sein scheint. Keine Landesregierung, so dokumentierte eine neue Umfrage am Freitag, ist bundesweit unbeliebter. Der CDU-Chef und Innensenator Frank Henkel hat miese Zustimmungsraten. Sein Auftreten und Wirken hält ein untergehendes Altberlin lebendig, das wie ein Zerrspiegel für die überall zu beobachtenden Aufbruchssignale daherkommt. Henkel steht einer musealen Konzeption von Berlin vor.

Eines der Models der Gucci-Kampagne trägt einen Pfau durch die gelborange leuchtenden U-Bahn-Treppen. Das wirkt wie ein Ausblick auf jenen betörenden Zauber, den Berlin dereinst versprühen könnte, wenn die Selbstverstümmelung und das Biedermeier ihr Ende gefunden haben. Auf der Pfaueninsel, von Friedrich Wilhelm II. im späten 18. Jahrhundert als Lustgarten für außereheliche Romanzen gepflegt, stolzieren im Südwesten Berlins die Pfauen über den märkischen Sand, gegen die Kargheit des Bodens und die Härte der preußischen Realität an. Die Pfaueninsel mit ihrem Attrappenschloss verdeutlicht, wie sehr Berlin immer schon Eleganz herbeibluffte. Zum Teil mit einem bemerkenswerten Unernst. Doch die Uhr für die Landespolitiker tickt. Die Schere zwischen dem real existierenden Provinzialismus der GroKo und dem abenteuerlichen Speed der bürgerlichen wie antibürgerlichen Neuberliner und ihrer megaerfolgreichen Landnahmen klafft weit offen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Bald auch in Berlin.

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